Chrónos

Der Herbst verlässt uns schleichend bald, gestern war der erste Advent, und Tag für Tag wird es früher dunkel. Morgen ist der erste Dezember! Pünktlich jedes Jahr steht er vor unserer Tür, er kündigt sich ohne Anmeldung an. Die Läden sind voller als sonst, die Menschen schleppen viel mehr Sachen als zu anderen Zeiten nach Hause, so als ob sie nicht ohnehin schon genug von allem angehäuft hätten. Bald ist das Jahr um und alles fängt wieder von Null an. Mancher merkt so etwas gar nicht mehr – Ja, mein Opa! Der war das beste Beispiel. Ab einem bestimmten Alter wurde er lethargischer und hörte auf, sich um Regeln zu kümmern. Eines Tages bemerkte ich sogar, dass er seine Lieblingsarmbanduhr nicht mehr trug, was mich sehr irritierte. Viele Jahre zuvor hatte er mir eine Uhr geschenkt, und immer, wenn er mich einmal ohne Armbanduhr sah, hatte er tadelnd gesagt: „Ein Gentleman trägt immer seine Armbanduhr am Handgelenk!“

Ich liege noch im Bett und schaue auf den Wecker. Es ist schon halb Neun! Ich springe aus dem Bett, denn ich habe einen wichtigen Termin und muss pünktlich sein. Ich bin noch ganz müde, denn ich war bis Mitternacht damit beschäftigt, Argumente aufzuschreiben. Ich hatte das Gefühl, als ob ich eine große Rede für die ganze Nation halten müsste. Ich wusste auch überhaupt nicht, was ich zu dem Termin anziehen sollte. In jedem Fall sollte es etwas Besonderes sein, schließlich ist es ja das erste Mal und sie soll mich ernst nehmen. Auf dem Weg zu dem Termin kommen mir große Zweifel, ich suche unsicher nach dem vereinbarten Treffpunkt, ich habe das Handy zu Hause vergessen, und habe es gerade noch geschafft, meine Armbanduhr anzulegen. Um Punkt zehn – dem vereinbarten Zeitpunkt – erreiche ich den Treffpunkt. Ich fühle mich verschwitzt, das Atmen fällt mir schwer und mein Herz pumpt schneller als sonst. Ich wollte unbedingt vor ihr da sein, aber ich sehe, dass sie schon auf mich wartet.

Das Gespräch – Zeit, um reifer zu werden.

Schnell merke ich, dass der Ort nicht ideal ist. Ich fühle mich beobachtet, wie in einem Gefängnis – kalt, grau, still. Vor mir sitzt sie, hat ihr verstaubtes schwarzes Kleid angelegt: Die „Zeit“; die furchteinflößende, ungewürzte „Zeit“, sehr selbstbewusst, mit einem gleichgültigen Blick und gleichzeitig ganz entspannt. Sie weiß alles, ist sich aller Tatsachen gewiss, sie hat die besten Argumente, um im Prozess zu siegen.

Da sie nichts sagt, fange ich nach einigen Minuten das Gespräch an, ich muss mich erst im Smalltalk üben.

Ich: „Es ist mir eine Ehre, dass ich dir begegnen darf“

Zeit: „Ich kenne Dich schon lange, du hast dich oft über mich beschwert“

Ich: „Oh, es tut mir sehr leid! Es war nicht meine Absicht, Dich zu verletzen!“

Zeit: „So etwas höre ich mir bereits mein ganzes Leben lang an, keiner kann und will mich verstehen!“ „Über mich hat man tausende von Sachen erzählt und mich vieler Missstände beschuldigt. Meine Ehre wird ständig in Zweifel gezogen; die Menschen glauben, ich sei an allem, was in ihrem Leben falsch läuft, Schuld!“

Ich: „Du sollst nicht alles so ernst nehmen, es liegt meist nur an unserer Frustration, wenn wir so agieren“

Zeit: „Ich weiß, dass alles nur noch Blasphemie ist!“

Ich muss schnell abschalten und das Gespräch verdauen. Ich will sie nicht traurig sehen. Ich weiß, dass fast alles, was sie sagt, der Wahrheit entspricht, aber genau das will ich ihr nicht sagen. Ich habe schließlich gehört, dass sie doch ganz trügerisch und hinterhältig sein kann, aber gerade das will ich ihr auch nicht sagen. Ich will erst einmal die jetzige Atmosphäre ändern und mit den Emotionen runterkommen.

Ich: „Was machst du denn da so still?“

Zeit: „Ich arbeite die ganze Zeit“

Ich: „Sag mal, hast du irgendwelche Hobbys?“

Zeit: „Das darf ich mir nicht erlauben!“

Ich denke mir schnell, dass ich jetzt mit dem ernsten Gespräch anfangen muss: Jetzt oder nie! Ich weiß, dass sie mir kein weiteres Gespräch anbieten wird, weil sie SO beschäftigt ist. Ich muss sie jetzt konfrontieren!

Ich: „Sag mal, hast du dir schon einmal überlegt, deinen Lebensrhythmus zu ändern?“

Zeit bewusst: „Das ist kein Thema für mich!“

Ich: „Warum bist du manchmal rücksichtlos?“

Zeit: „Ich bin einfach neutral und objektiv!“

Ich: „Das muss nicht heißen, dass du dabei empathisch, achtsam bist!“

Zeit: „Meinst du denn, dass das meine Aufgabe wäre? Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für Aufgaben ich die ganze Zeit habe! Wenn du schläfst, arbeite ich immer noch, ich erlaube mir keine einzige Pause! Du bist nur ein Parasit! Ohne was zu tun, verlangst du, dass ich immer da bin. Ich erlaube mir keine Ausreden.“

Ich suche hastig in meinen Notizen nach Argumenten. Die Notizblätter fallen mir aus den Händen. Sie sind ohnehin chaotisch. Meine Gedanken sind völlig durcheinander. Die Zeit hingegen hört gar nicht auf, im Hintergrund ihre Argumente vorzutragen. Ich bin überwältigt, weiß aber, dass ich nicht aufgeben darf. Ich weiß, dass ich nicht viel Zeit mit ihr habe.

Am Ende schreit „Zeit“ furchterregend: „Ich frage mich oft, ob Du ohne mich besser zurechtkommen würdest!“

Ich bin verwundert, weiß nicht, was ich antworten soll.

„Zeit“ fährt fort mit dem Gespräch: „Ich habe dich verfolgt und du hast es nicht gemerkt. Du kommst mit deinem Leben nicht ganz klar!“

Ich bin komplett irritiert, weil sie weiß, dass sie doch recht haben könnte. Mir fällt nicht ein, was ich ihr entgegnen kann. Ich habe keine Argumente.

Ich: „Du musst noch etwas wissen: Bei vielen Menschen bist du einfach unbeliebt und es muss nicht alles immer so genau sein!“

Zeit mit aufgesetztem Lächeln: „Ich brauche kein Lob, keine Inspiration. Ich mache ja meine einzige Aufgabe, und „sie“ beherrsche ich ganz genau und rechtzeitig!“

Ich weiß, dass sie sich dabei denkt, sie brauche sich kein Gedanken zu machen. Der Verlierer stehe bereits fest.

Jedes Mal, wenn sie meine Argumente beantwortet, wird mir kälter. Gleichzeitig schaue ich weg, mein Blick landet in einer kalten, einsamen Ecke.

Zeit: „Schau dir an, wie du aussiehst – verzweifelt, geschlagen! Man muss mit den Wölfen heulen!“

Ich: „Du bist einfach herzlos!“

Zeit: „Das brauche ich nicht und du bekommst so oder so die Rechnung jeder Zeit zurück!“

… und sie ist einfach weg, ich kann sie nicht anhalten, mir wird einfach kälter und ich fühle mich einsam. Ich habe das Zeitgefühl verloren und laufe nach Hause. Es war einfach ein bizarres Gefühl. Ich hatte die ganze Zeit gedacht, ich hätte bis jetzt nur Fehler gemacht. Es ist, als ob nun meine personifizierte Illusion gestorben wäre.

Ephemeros

Seit dieser Konfrontation mit „Zeit“ sind einige Jahre verstrichen. Mir ist mittlerweile klar geworden, wie schnell die Zeit vergeht. Alles, was ich mir wünsche, ist, die Zeit für einen Augenblick anzuhalten. Ich denke mir, dass ich vielleicht mehr Zeit mit meinem Großvater hätte verbringen sollen, der nicht mehr lebt; dass ich die Schulzeit ein bisschen mehr hätte genießen sollen; mich mehr mit meinen Geschwistern hätte beschäftigen sollen; den Sonnenuntergang öfter hätte betrachten sollen. Aber dann denke ich, dass es unsinnig ist, vergangenen Zeiten nachzutrauern und sich nach etwas zu sehnen, was nicht mehr nachzuholen ist. Nun bin ich Mitte 80 und lebe auf einer verlassenen Insel, auf der die Tage länger hell sind. Mein Leben ist voll von Heldentaten, Erfolgen, Erinnerungen, Verlusten und Bedauern, die mir keiner wegnehmen kann. Ich weiß, dass ich lethargischer geworden bin und aufhöre, mich um Regeln zu kümmern. Eine Lieblingsarmbanduhr trage ich längst nicht mehr. Das Interesse an materiellen Dingen habe ich längst verloren und besitze nur das Nötigste. Was mir bleibt, ist die ewige Nostalgie. Zeit ist flüchtig. Was zählt, ist das Heute!

Berlin, 02.12.20

Fernando De Reyes

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