Herbstanfang 2022: Victoria Böhland ist kurz davor, die Eingangstüren des Berlin Kolleg zu durchschreiten. Einen ganzen Monat wird die Leipzigerin ab heute hier verbringen. Ist alles noch beim Alten? Die Tischtennisplatten im Innenhof jedenfalls wirken so einladend wie eh und je. Früher hat Victoria hier oft gespielt – bald wahrscheinlich wieder. Weiter Richtung Hauptgebäude, vorbei an verwitterten Bierbänken. Sie scheinen die Jahre seit dem Weggang unbeschadet überdauert zu haben. Noch ein kurzer Blick den Flur hinunter, bevor Victoria das Klassenzimmer betritt. Hier hängt die Fotowand mit Bildern aller Lehrkräfte. Da ist noch Frau Sander, und da Herr Schendel. Doch wer ist Frau Bacharova? Und wer Herr Frenckel? Victoria weiß es nicht. Spannend wäre es in diesem Moment, ihr hier an diesem Ort eine Rückfrage zu stellen: Wird dein eigenes Porträt vielleicht auch bald hier hängen?
Ganz ausgeschlossen ist das nicht. Schließlich betritt Victoria die Türen zum Berlin Kolleg im Herbst 2022 nicht als Kollegiatin: Nach fünf Jahren Studium in Leipzig erprobt sie sich vier Wochen lang in einer neuen Rolle an ihrer alten Wirkungsstätte. Victoria ist Fremdsprachenlehrerin in Ausbildung und absolviert hier gerade ein Praktikum im Fach Englisch. Also rein in eines der alten Klassenzimmer, einen Englischgrundkurs kennenlernen. Erst beobachten, dann selbst unterrichten, so der Plan für die nächsten Wochen.
Wer nichts über Victoria weiß und sie beim Eintreten betrachtet, dürfte zumindest auf den ersten Blick ins Grübeln kommen, ob es sich bei ihr um eine Kollegiatin oder Lehrerin handelt. Blonde Haare, freundliches Lächeln, entspannte Gesichtszüge mit zuweilen expressiver Gestik und Mimik, als Kleidung trägt sie heute eine Strickjacke zu grauem Wollpulli: Diese Frau passt potentiell in beide Schubladen.
Victorias Leben als Kollegiatin und Studentin
Befragt man die Leipzigerin, wie es dazu kommt, dass sie sechs Jahre nach ihrem Abitur wieder zurück ist und warum sie zwei Fremdsprachen (Spanisch und Englisch) noch dazu auf Lehramt studiert, leuchten ihre Augen und es fällt sehr bald: Der Name einer Fremdsprachenlehrerin. Dieser Name lautet ‚Ulla Pecht‘. Frau Pecht ist Victorias ehemalige Spanischlehrerin hier am Kolleg. „Ulla hat mich mit ihrer Euphorie für die spanische Kultur und das Fach Spanisch sofort angesteckt. Wir hatten viele Freiheiten, den Unterrichtsstoff auf unsere Weise anzugehen. Ob das Gruppenarbeit, Partnerarbeit oder die Pausengestaltung betraf, wir konnten unser Ding machen.“
Zwar habe sie bereits bei ihrer Entscheidung, überhaupt ein Kolleg zu besuchen, die vage Option im Hinterkopf gehabt, später eventuell selbst einmal Lehrerin werden zu können, die konkrete Entscheidung dazu und vor allem die Fächerwahl habe sich jedoch vor allem im Laufe der eigenen Lernerfahrungen im Frendsprachenunterricht am Berlin Kolleg ergeben. Neben ‚Freiheit‘ benutzt Victoria noch ein anderes anerkennend gemeintes Wort mehrmals, um ihre Erfahrung bei Frau Pecht sowie im Zweiten Bildungsweg als Ganzes auf den Punkt zu bringen. Es ist der Begriff der ‚Augenhöhe‘. Insofern überrascht es nicht, dass sie beim Schulfest im Gespräch mit ihrem Kumpel Philipp auch diesen Satz sagt: „Die Zeit am BK damals, das war doch die beste Zeit meines Lebens.“
Das klingt zunächst nach einer ziemlich entspannten Lebensphase in Berlin, die Victoria wohl auch ein bisschen nostalgisch macht. Insofern überrascht es kaum, dass sie auch auf die explizite Nachfrage, was denn mit negativen Eindrücken sei, nach längerem Überlegen etwas verlegen entgegnet: „Nichts, eigentlich“. Mit Ausnahme von ein paar Unterrichtsfächern, die ihr nicht so lagen wie die Fremdsprachen, zeichnet Victoria ein durchweg positives Bild ihrer Berliner Jahre. Verglichen mit der Schulerfahrung in der bayrischen Provinz sei die Berliner Schule für sie auch wirklich leichter gewesen. Ist ihr damals also alles von alleine zugefallen? Nicht wirklich, erklärt Victoria: „Für meinen Abischnitt von 1,6 habe ich zwar selektiv, aber dann auch intensiv gelernt.“
Also doch nicht alles so relaxt, wie es zunächst scheint. Ob das geisteswissenschaftliche Studium in Leipzig nicht ähnlich zu handhaben sei und daher eine weitgehend sorgenfreie Studienzeit wie damals am BK ermögliche? Energisches Kopfschütteln und ein beinahe verächtliches Lachen als erste Reaktion auf diese Frage deuten einen Alltag an, der nicht dem Klischee von weitgehend unbekümmerten Studentenjahren entspricht. Und tatsächlich zieht Victoria dann eine einigermaßen überraschende Parallele: Im Vergleich zu ihrem Alltag an der Uni in Leipzig sei das BK „der reinste Ponyhof“ gewesen. Sie schlafe eher wenig und studiere und arbeite dafür umso mehr, vor allem sei die regelmäßig zu bewältigende Menge an Lesestoff in ihrem Studium enorm hoch.
Zu den Höhepunkten ihrer Studienzeit zählt Victoria ihr Erasmussemester an der ‚Universidad Las Palmas de Gran Canaria‘. Hier lernt sie die spanische Lebensart kennen und schätzen, hier beginnt sich eine Frage in ihrem Kopf zu formen: Was, wenn mein Lebensmittelpunkt dauerhaft außerhalb von Deutschland läge? Was, wenn ich die Möglichkeiten meines Fremdsprachenstudiums dazu nutze, dort zu leben und zu arbeiten, wo andere Urlaub machen?
Not your typical Lehramtsstudentin
Spätestens an dieser Stelle sollte klar geworden sein, dass Victoria keine typische deutsche Lehramtsstudentin sein will und es auch nicht ist. Das zeigt sich zum Beispiel in ihrer sprachlichen Selbstbeschreibung. Sie studiere Anglistik und Amerikanistik mit Hispanistik. Eine Leipziger Kommilitonin, die sich als definitives Lebensziel gesetzt hat, sächsische Kinder und Jugendliche in Fremdsprachen zu unterrichten und sich zumindest insgeheim auch über die sichere und berechenbare Perspektive des Lehrerberufs freut, würde vielleicht einfach über sich sagen: „Ich studiere Englisch und Spanisch auf Lehramt. Mein Traum ist es, in fünf Jahren die Thomaner in Leipzig zu unterrichten.“
Victoria sagt solche Sätze nicht und denkt auch völlig anders über die eigene berufliche und persönliche Zukunft. Traumvorstellung Einfamilienhaus mit Garten in der Vorstadt, dazu fünf Tage die Woche von 8 bis 14 Uhr ein paar Jugendliche beschulen, Job und Familie gemütlich unter einen Hut bringen und so das Leben in ruhige und berechenbare Bahnen lenken? Nichts für Victoria.
Die Festlegung auf den Beruf der Lehrerin in Deutschland empfindet sie in jedem Fall als persönliche Einschränkung, das oben geschilderte Szenario eventuell sogar als Schreckensbild. Ihr Studium hat sie daher auch nicht wegen der sicheren beruflichen Perspektive, sondern eher trotz dessen aufgenommen. Victoria ist in erster Linie Kultur- und Sprachenthusiastin und fasst ihre Einstellung und die persönliche Zukunft auf eine für Lehramtsstudentinnen ungewöhnliche Art und Weise in drei Sätzen zusammen: „Ich brauche Sonne, Palmen, Meer. Besitz ist mir nicht wichtig. Ich lebe im Hier und Jetzt.“
Das Hier und Jetzt in Leipzig ist für Victoria meistens eher anstrengend. Während des gesamten Studiums jobbt sie nebenbei als Kellnerin, außerdem beginnt sie eine Zusatzausbildung als Yogalehrerin. Zudem ist sie dabei, am Goethe Institut eine Zusatzqualifikation im Bereich Deutsch als Fremdsprache zu erwerben. Kein Wunder also, dass Victoria sich ab und an nach einer Auszeit von ihrem Studienalltag sehnt. Und genau die hat sie sich für den Zeitraum Herbst und Winter 2022 auch erneut geschaffen. Nach ihrem Abstecher ans BK geht es für sie nicht gleich zurück nach Leipzig, um ihr Studium schnellstmöglich zu beenden, sondern stattdessen für ein Vierteljahr nach Indien. Hier will sie einerseits Sprachpraxis sammeln und andererseits ihre Ausbildung als Yoga-Lehrerin fortsetzen. Ihr Weg führt sie daher zunächst in ein Yogazentrum in die Stadt Rishikesh im Norden Indiens, die aufgrund der vielen Meditationszentren auch als ‚Yoga-Hauptstadt‘ der Welt gilt. Für ein paar Wochen vertieft sie hier, mitten im indischen Dschungel, in einem dieser ‚Ashram‘ genannten Zentren ihre Yogaausbildung – ein Prozess, der geistig und körperlich herausfordernd ist.
Karriereziel Selbstverwirklichung
Auf karriereorientierte Mitmenschen mag das alles fremd oder gar ziellos wirken. Für Victoria ist es genau umgekehrt. Sie wirkt keinesfalls planlos, sondern im Gegenteil ziemlich zielorientiert; allerdings nicht auf eine klassische an Berufsbildern und materiellem Wohlstand orientierte Art und Weise. Ihr Ziel scheint mehr mit einem bestimmten Lebensgefühl zu tun zu haben, dass sie sich dauerhaft erhalten will. Es gründet auf einem starken Bedürfnis nach persönlicher Autonomie und freier Selbstentfaltung sowie der Möglichkeit, ganz eigene Entscheidungen zu treffen, die nicht von Herkunft, Familie und Milieu bestimmt sind. In dieser Hinsicht ist Victoria erstaunlich ungebunden oder anders gesagt: Sie schätzt ihre Freiheit ungemein, und zwar in jeder Hinsicht.
Unter diesem Blickwinkel wirkt ihr eingeschlagener Lebensweg rückwirkend betrachtet dann auch mehr als konsequent: Nach der Schulzeit in Sachsen und später Bayern macht Victoria zunächst ein freiwilliges soziales Jahr in der Ergotherapie. Die bayrische Lebensperspektive erscheint ihr jedoch zu eng und provinziell, so dass als nächster Schritt eine Ausbildung als Sozialassistentin in Berlin erfolgt. Ein Praktikum an einer bilingualen Grundschule motiviert die damalige Neuberlinerin, ihr Abitur hier nachzuholen. Der Wechsel in die Großstadt Berlin und in der Folge an das BK ist ein logischer nächster Schritt auf einer Lebensreise, die auf eine stetige Erweiterung des eigenen Horizonts hinausläuft. Welche Rolle dabei der Schulabschluss am Berlin Kolleg spielt? „Das Abitur öffnet mir Türen“, sagt Victoria, die sich selbst als Arbeiterkind bezeichnet, und schaut dabei versonnen in die Ferne.
Türen, die ihr ohne das Abitur verschlossen geblieben wären. Zunächst ist da natürlich die Tür zu einem Studium in einer anderen Stadt, mit der Zeit aber auch die Entdeckung einer weiteren Tür: Sie öffnet sich in Richtung eines dauerhaften Lebens in südlicheren Gefilden. Stellen wir ihr also doch zum Abschluss ganz direkt die Frage, wo ihr Porträt in Zukunft hängen soll. Nicht vielleicht doch hier am Berlin Kolleg? Victorias Antwort kommt direkt und unterstreicht ihr Streben, sich von den Pfaden ihrer Herkunft klar zu emanzipieren: „Wenn es Deutschland sein sollte, dann am liebsten in Berlin. Aber ehrlich gesagt habe ich mich von Deutschland eher abgewendet.“
Bleibt also nur noch diese eine Frage zu klären: Wie geht es nach dem Studium mit Victoria Böhland weiter? Am plausibelsten erscheint ihr derzeit ein zukünftiger Lebensmittelpunkt in einer spanischsprachigen Region. Hier könnte sie die ihr ans Herz gewachsene Mentalität genießen und all ihre in den letzten Jahren erworbenen beruflichen Fertigkeiten einbringen. Die Möglichkeit der Auslandssemester haben den Plan auszuwandern in ihr reifen lassen, so dass sich eine Erkenntnis formt: „Ich habe realisiert, dass ich dort leben kann, wo es mir wirklich gefällt.“ Die Tür in ein selbstbestimmtes Leben unter spanischen Palmen steht für Victoria sperrangelweit offen. Es sieht so aus, als würde sie demnächst hindurchgehen.
„Ich habe realisiert, dass ich dort leben kann, wo es mir wirklich gefällt.“
Victoria Böhland