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Der Dachboden

Wenn es Zeit war für Mittagessen, stieg sie auf den Dachboden.
Dort hat sie die Mittagspausen verbracht. Jeden Tag. Sie lief auf und ab über quietschendes Holz, schaute lang und eindringlich in die Ziegelsteinmuster, pustete den abgefallenen Putz, bis sich daraus Gestalten bildeten. Sie las Wände wie Wolken und lief von Fenster zu Fenster, zwischen Holzbalken hüpfend.
Dann saß sie da. In der Mitte des staubigen, halbdunklen Raumes mit vielen kleinen Fenstern, von denen die Hälfte aus einem rätselhaften Grund mit Hockern und Stühlen umstellt war. Manchmal stellte sie sich auf einen der Stühle und konnte so den Kopf ganz aus dem kleinen Fenster strecken. Dort sah sie der Stadt beim Atmen zu.
An dem Tag war sie früh morgens da. Sie brachte ihre Decke mit, breitete sie aus und legte sich hin. Hände auf dem Bauch gekreuzt, ein Bein eingeknickt unters andere und mit dem Fuß wackelnd, lag sie da. Lange. Bis die Sonne endgültig aufging und man vom Hof Stimmen hörte. Raucherpause. Sie muss längst unten sein.
Gut möglich, dass man sie sucht.
Sie lag da und guckte zur Decke.
Das Holz quietschte und man hörte Schritte. Es war der Hausmeister. Er kam, um eine Leiter zu holen.
“Was machst du hier?” – fragte er.
“Ich liege hier und gucke zur Decke” – sagte sie.
“Schön” – sagte er und wollte rausgehen. “Bist du Sally? – fragte er noch – Man sucht dich unten”.
“Du bist ja schon wieder hier” – rief der Hausmeister leicht belustigt zwei Wochen später.
“Natürlich bin ich wieder hier” – antwortete sie nach kurzem Überlegen und legte sich wieder hin. Sie nahm die Decke nun öfter mit, weil es so schön war, mitten in dem Raum zu liegen und zuzuhören, wie das Uhrwerk alle paar Gedanken sich räusperte, als wolle es sie daran erinnern, dass es Zeit ist, nach unten zu gehen.
“Gleich” – ließ sie manchmal darauf verlauten. Und lag weiter da.
“Sehen Sie diesen Stuhl da” – sagte sie – ”manchmal kommt es mir vor, als hätte ihn jemand hingestellt, genau unters Fenster, damit es der Sonne gemütlicher ist, wenn sie mich hier besuchen kommt.”
Der Hausmeister zog fragend die Augenbrauen hoch.
“Unter jedem Fenster”. – ein Lächeln zog sich über ihr Gesicht. – “Dem Licht muss es hier einsam sein, deswegen ist es so mürrisch”.
Ein paar Sekunden schwieg sie nachdenklich.
“Sehen sie, wie das Licht diesen Hocker da dankbar umarmt, für seinen Beistand?”
Der Hausmeister schaute sie einen Moment lang mit traurigen Augen an. “Ich muss runter. – sagte er schließlich – Na dann, bis zum nächsten Mal”
“Sehen Sie – rief Sally zu dem Hausmeister das nächste Mal – da, hinter den protzigen neuen Häusern, sehen Sie, das alte Haus? Die Farbe blättert dort ganz dolle ab, und der Baum daneben, ganz kahl, fast wie Sie! Und daneben der Schornstein, der hat dieselbe Farbe, wie die Unterhaut vom Haus. Da, unter abfallendem Putz, sehen Sie? Ist es nicht schön das alles zusammen? Und die Wolke, ja noch die ganz grimmige Wolke, die ihnen immer näher kommt!” “Ja, die Wolke ist wirklich ganz grimmig” – stimmte der Hausmeister zu.
“Und dort, am Starboard, – sie lief über zu der anderen Seite, stellte sich den Hocker, um den Kopf ganz ausstrecken zu können – dort sieht man die Siegessäule! Die Siegessäule ist wunderschön, besonders nachts, wenn sie allein im Himmel steht über dem Garten. Jetzt ist sie von Rauch umhüllt, ich glaube irgendeine Fabrik. Warum baut man Fabriken in der Stadt? Sehen Sie, da. Fast als würde sie am Lenkrad eines riesigen Schiffes uns durch den Nebel im endlosen Meer navigieren!” Sie stieg vom Hocker und bot dem Hausmeister ihren Platz an, damit er sich selbst davon überzeugen konnte, wie schön die Siegessäule im Nebel schwamm.
Der Hausmeister kletterte auf den Hocker und streckte seinen Kopf aus dem kleinen Fenster. Ein paar Minuten stand er da, dann zog er den Kopf zurück und sagte – “so, ich muss aber runter”. “Bis nächste Woche” – sagte sie. “Bis nächste Woche.” – antwortete der Hausmeister.
Der Hausmeister kam manchmal vorbei und lauschte an der Tür, wie sie auf und ab ging. Wie sie die Hocker umstellte und die kleinen Fenster aufmachte. Er kam nicht herhein, er musste unten sein, doch lauschte er immer kurz an der Tür, wenn er vorbeilief. Manchmal hatte er Zeit, dann kam er sie besuchen. Sie zeigte ihm den Efeu, der das arme Haus an der Kreuzung umschlungen hat, – die Treppe, das Dach, – herrisch wucherte es umher. An der Fassade nebenan klammerte sich aus letzter Kraft ein dünnes Gewächs fest, das seine letzten Blätter im Kampf gegen den Winter verlor. Sie zeigte ihm, wie die kleinen Autos unten an der Ampel stolperten und errötend stehen blieben. Wie der milchige Schaum, der die Welt bedeckte, als wäre die Stadtluft zu stark verrührt worden, in Wahrheit weiche Schichten Wolken sind, die einander im Vorüberziehen streicheln. Wie die Bäume missbilligend mit den Köpfen schütteln, im Anblick vorbeiziehender Menschenmengen. Menschen streicheln sich nicht im Vorüberziehen.
Er lauschte an der Tür und hörte ein stumpfes Klopfen. Ein regelmäßiges Klopfen an Holz. Er kam herein. Sie saß auf dem Boden und schlug den Kopf gegen einen Holzbalken.
Er lief auf sie zu. “Was machst du da?”- schrie er.
Sie schaute vor sich hin und sah und hörte ihn nicht. Er schüttelte sie an der Schulter.
“Es war mal ein Adler – sagte sie leise – , der sein Ei in ein Hühnernest gelegt hatte. Als das Adlerei schlüpfte, dachten alle “Was für ein seltsamer Huhn””.
Der Hausmeister schaute sie bestürzt an.

“Der Adler wuchs mit Hühnern auf. Er wollte fliegen, er hatte so viel Kraft. Doch man verspottete ihn, weil Hühner nicht fliegen können.“
Sie sprach langsam, ihre Stimme war fest und eben. Sie stützte sich mit den Händen auf staubigem Boden.
Mit einem Ruck drehte sie sich dem Hausmeister zu, sah ihn prüfend an, verzog das Gesicht zu einer finsteren Miene und schwieg für eine Weile.
“Hat der Adler ihnen geglaubt?” – fragte der Hausmeister
Sie holte tief Luft. Langsam rollten Tränen ihre Wangen hinab.
Wenn man sie nicht anschaute, würde man nicht merken, dass sie weint. Ihre Stimme war fest und eben. Ihr Blick so starr wie die Wut.
Der Hausmeister packte sie am Arm. “Komm, -sagte er. – wir gehen nach unten”.

Fotos von Daria Modin