Leerstellen in Gedichten

Der Erlkönig

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.


Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. –


„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“ –


Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. –


„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ –


Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. –


„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“ –
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! –


Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.


So wie in vielen Balladen finden sich in Goethes Werk viele Leerstellen, die den Leser*innen den
Raum geben, diese Leerstellen durch ihre eigenen Interpretationen zu füllen. So bleibt zum Beispiel
unklar, warum der Erlkönig sofort Angst in dem Jungen auslöst, obwohl die Figur anfangs freundlich erscheint. Offensichtlich erlebt das Kind etwas Grausames oder es stellt sich dieses Erlebnis vor. Dieser Krankheit unterliegt der Junge am Ende des Gedichts und stirbt. Eine zweite Gruppe von Interpreten geht davon aus, dass der Erlkönig eine reale, übernatürliche Macht darstellt, die dazu fähig ist, über das Leben und den Tod des Kindes zu bestimmen. Diese Interpretation wird auch durch den Glauben vieler Menschen an nicht nachvollziehbare, naturmagische Energien, auch in Form von Schadenzauber, untermauert. Einige interpretieren gewisse Verse wie „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt / Und bist du nicht willig, so brauch´ ich Gewalt“, als anstößig und gehen deshalb von einem Missbrauch oder einer Vergewaltigung aus. Eine weitere interessante Interpretation besagt, der Junge sei gar nicht tot, sondern seiner Unschuld beraubt worden. So steht der Tod für das Ende seiner Kindheit und für den darauf folgenden Eintritt in die Welt der Erwachsenen. Zwar versucht der Vater durch seinen schnellen Galopp seinen Sohn zu beschützen, jedoch ist er gegenüber der fortschreitenden Zeit und der erwachenden Sexualität seines Sohnes machtlos und kann ihr nicht entkommen. Der Erlkönig verkörpert hierbei seine ersten pubertären Ahnungen und lockt den Knaben zunächst mit mütterlichen, dann mit erotischen Phantasien in ihr Reich und gewinnt schließlich gewaltsam die Oberhand.

Der Interpretationsspielraum bei Leerstellen in Gedichten bietet, wie wir sehen können, einen breiten Fächer von Vorstellungen voller Fantasie und Kreativität. Wie interpretierst du die Leerstellen in Goethes Gedicht? Wie bewertest du die oben ausgeführten Interpretationen? Gleichen sie sich mit deinen eigenen oder weichen sie von ihnen ab? Wir freuen uns über deine Gedanken!

Bild : https://vocal.media/poets/appeal-to-the-void
Ballade : Erlkönig(1782) von Johann Wolfgang von Goethe