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Das Mäandern des Andern in der Figur

Der Saal ist menschenleer. Die Proben neigen sich dem Ende zu. Die Hörner rauchen auf dem Balkon. Die Oboen unterhalten sich im Foyer. Aber der Geiger spricht nicht. Er ist in sich gekehrt. Er will die Sinfonie und sein ihm zugedachtes Spiel nicht verstehen. Die Noten verstoßen ihn, sie reiben sich an ihm, die interpretatorische Gestaltung, die Hoheit des Dirigenten, den er ohnehin nicht leiden kann, missfällt ihm.

Er ist erst neu in der Stadt, ein Freund von der Akademie empfahl ihn, und nach einem Vorspiel wurde er in das Ensemble aufgenommen, und nun muss er sich beweisen.

Nur noch wenige Stunden, dann ist es soweit, dann wird er im Halbrund seinen Platz einnehmen und wieder mal die zweite Geige spielen – müssen.

Er flüchtet, jagt hinaus, in die die nasse, durchbohrende, die Menschen peitschende, bei Laune haltende, ausmergelnde, verlustigende, nahe und unnahbare Stadt.

Es ist nicht so, als sei er auf die Probe gestellt. Er studierte dieses Spiel genau. Die zu spielende Sinfonie ist ihm hinlänglich bekannt, aber da ist ein anderes Wirrnis, ein Spiel in ihm selbst, das sich dem auferlegten Spiel des Dirigenten verstellt.

Sein Bruder rief vor zwei Tagen an. Er atmete schwer. Es musste etwas geschehen sein. Etwas war anders. Sie sprachen nicht von Wald und den Wiesen, wie sonst üblich, oder dem Verkehr, wie es hier und dort sei, was Linda, die ältere Schwester, gerade mache, ob die Mutter am Sonntag einen Kuchen backe, oder der Vater im Schuppen vor dem Haus hantiere, eine lange Stille, zwischen Hörer und Muschel. Und dann die Nachricht: Wie ein Flugzeug an der Wand eines Berges zerschellend, ein Surfer umreißend von den Wellen, einen Unwissenden das Ei statt mit den Händen mit dem Messer pellend.

Anton, der jüngste Sohn von Linda, ist tot.

Er kehrte schließlich dann doch zurück, wurde in der Maske nochmal zurechtgezupft, legte sich selbst ab und zog sich den andern Mäandernden an, unnahbare

den andern, im Halbrund Sitzenden, der nun mehr nur noch andres kann:

Er weicht dem Dirigenten aus, entwickelt sein eignes Spiel, ragt immer mehr hervor, entwickelt eine Figur, die nicht enthalten ist, es wird zurückgeschreckt, ein Raunen geht durch das Orchester, und die Symphonie des Einzelnen hallt durch den Raum, im Saal die Geigenklänge, sie sind nicht mehr im Zaum, und romantisieren, trüben und schwärzen, gehn in die Tiefe. Und in den Reihen fangen die ersten an mit seinem Spiel zu schwingen, aus den Augen zu tränen und mit den Mündern zu staunen.

Er setzt ab,

setzt an,

setzt ab,

wird festgenagelt, wie Dornen durchbohren die Aufgeschreckten, die Ergriffenen und die Entsetzten, die Oboen, die Hörner, die Klarinetten, die entsetzten Feuilletonisten, die Posaunen ihn, und der Dirigent selbst, ergreift das Wort:

„Himmelherrgott, was ist bloß mit Ihnen los?“

„Anton ist tot. Da spiel ich doch nicht die Fünfte von diesem Schelm.“

Titelbild : Photo by Lucas Alexander on Unsplash