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Wir Lehrkräfte III: Zwischen Bits und Tafelkreide

Ein Feature-Beitrag von Pauline.

In Raum 109 des Berlin-Kollegs prallen in Gestalt zweier Lehrer mitunter zwei Welten aufeinander. Die beiden Lehrer Herr Hoyer und Herr Lehmann teilen sich diesen Arbeitsort an mehreren Tagen in der Woche. Sie sind vor allem durch ein gemeinsames Ziel verbunden: zumeist jungen Erwachsenen eine (zweite) Chance auf das Abitur zu geben und den Weg dorthin für alle Lernenden erwachsenengerecht zu gestalten. Im zweiten Block steht dienstags Herr Lehmann hinterm Lehrerpult, ein dynamischer Lehrer aus dem digitalen Zeitalter, der Smartboard und Computer als seine bevorzugten Lehrmittel auserkoren hat. Im dritten Block begegnen die Kollegiat*innen dieser Klasse dann Herrn Hoyer, einem erfahrenen Pädagogen, für den Kreide und Overhead-Projektor ihren Charme nie verloren haben. Ihre Unterrichtsansätze könnten unterschiedlicher nicht sein, doch beide verkörpern auf ihre Art die Essenz dessen, was das Berlin-Kolleg ausmacht: Ein Lehren und Lernen, das viel weniger durch Hierarchien und feste Rollenmuster geprägt ist, als man dies von Schule im Ersten Bildungsweg kennt.

Herr Lehmann: Der Digitale

Herr Lehmann, der jüngere der beiden Lehrer, navigiert tagtäglich routiniert durch den digitalen Dschungel des modernen Klassenzimmers. Sein Unterricht in den Fächern Deutsch und Englisch ist geprägt von einem Wechsel zwischen verschiedenen Technologien und Medien, die das Lernen nicht nur effizienter, sondern zuweilen auch unterhaltsamer gestalten. Während in einem Moment noch die Erklärung des Grammatikthemas auf das Smartboard projiziert wird, teilt der Anfang Vierzigjährige im nächsten Moment schon seinen selbst gemachten Grammatik-Crashkurs aus – mit ironisierendem Einhorn-Meme auf dem Titel, versteht sich. Über klare Strukturen und auch online jederzeit verfügbare Materialien schafft er eine Lernumgebung, die den Kollegiat*innen die Möglichkeit gibt, sich Wissen auch selbstständig anzueignen und bei Fehlzeiten Lücken ohne Probleme aufzuarbeiten. Sein Engagement geht über die bloße Vermittlung von Unterrichtsstoff hinaus; er fördert individuelle Stärken und ist gern bereit, auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen einzugehen. Die Atmosphäre in seinem Klassenzimmer ist geprägt durch Interaktion und gegenseitigen Respekt. Wie andere Lehrkräfte am Kolleg auch achtet Herr Lehmann darauf, auf Augenhöhe mit den Lernenden zu agieren und mit viel Einfühlungsvermögen die Kollegiat:innen auf ihrem Weg zum Abitur zu begleiten. Wenn es sein muss, nimmt er sie manchmal auch ein wenig mehr an die Hand.

In Herrn Lehmanns Unterricht siezen sich die Kollegiat*innen und die Lehrkraft übrigens. Am Kolleg ist die gegenseitige Anrede eine Wahlentscheidung, die nicht alle Lehrkräfte und Kurse auf die gleiche Weise handhaben. Herr Lehmann sagt zu diesem Thema, für ihn wirke die Sie-Form bei aller Empathie und Nähe in beide Richtungen als eine natürliche Erinnerung daran, dass sich Lehrkräfte und Lernende auch am Berlin-Kolleg in sozial fixierten Rollen begegnen:

Manchmal ist die Sie-Form als natürlicher Distanzmarker im schulischen Alltag doch ganz praktisch.

Herr Lehmann im Gespräch mit Pauline

Nicht nur bei den Kursteilnehmer:innen ist Herr Lehmann, der durchaus auch mit Bestimmtheit und Durchsetzungsvermögen auftreten kann, wenn es die Situation erfordert, für seine humorvolle Art bekannt. Auch im Lehrerzimmer ist er sich für nichts zu schade. Sein ausgeprägter Aktivitätsgrad führt dazu, dass er seine Runde durch das Kollegiumszimmer auch mal auf dem Fahrrad dreht oder anderweitig „umherwuselt“, wie es die Lehrkräfte beschreiben. Ganz klar: Aus diesem Lehrer bricht immer mal wieder das innere Kind heraus.

Herr Hoyer: Der Bewahrer

Wenn Herr Hoyer die Regie in Raum 109 übernimmt, gleicht das Klassenzimmer eher einem medialen Rückzugsort im Sinne des digital detox. Bei Herrn Hoyer, der die Fächer Latein und Musik unterrichtet, sind der Overhead-Projektor und die traditionelle Tafel die medialen Hauptakteure. Hier stehen Regeln der lateinischen Grammatik, altgriechische Vokabeln und wohlstrukturierte Tafelbilder. Manche Kollegiat*innen nehmen das als willkommene Abwechslung vom digitalen Alltag am Kolleg wahr. Der Endfünfziger Herr Hoyer hält an bewährten Lehrmethoden fest, die aus Sicht der Lernenden in Teilen auch ein wenig Nostalgie aufkommen lassen. Im Unterschied zu Lehrkräften wie Herrn Lehmann hat er es sich beibehalten, den Kollegiat*innen auch nach all den Jahren immer noch das “Du” anzubieten, so wie es am Berlin-Kolleg etwa in den wilden Siebzigern gängige Tradition war.

Nenn mich Reinhard, wenn du magst. Du schaffst das!“

Herr Hoyer im Lateinunterricht der E-Phase am Berlin-Kolleg

Diesen Satz hören die Kollegiat*innen immer wieder von ihm, wenn sie aus Gewohnheit doch beim “Sie” bleiben. Mit seiner leichtfüßigen und lockeren Art unterrichtet er seit 25 Jahren am Berlin-Kolleg, wobei auch er den Kollegiat*innen Raum für ihre persönliche Entfaltung lässt. Dies zeigt sich im Lateinunterricht, aber noch viel stärker in Kursen wie dem Leistungskurs Musik. Herr Hoyer ist auch eine von zwei Lehrkräften, die am Berlin-Kolleg Konzerte und sonstige musikalische Auftritte mit viel Einsatz auf die Beine stellen. In dieser Rolle, als engagierter Begleiter auf dem Klavier oder anderen Instrumenten, kennen ihn die meisten Kollegiat*innen und Lehrkräfte.

Seine Ideen und Ansichten, gepaart mit einer doch sehr eigenwilligen Art zu unterrichten, schaffen eine wahrlich einzigartige Atmosphäre, die für viele seiner Kollegiat*innen prägend ist. Zugegeben, der Mehrheit der neuen Latein- oder Musikschüler*innen ist der erfahrene Lehrer am Anfang manchmal etwas suspekt. Doch schnell merken sie, dass das eben Reinhards ganz eigener, spezieller Charakter und Charme ist und er einfach nur sein Herz auf der Zunge trägt. Auch wenn seine Unterrichtsmethoden eher nicht dem Mainstream entsprechen, beweist er immer wieder, dass auch in Einfachheit und Reduktion ein besonderer Zauber und Kontrast liegen kann.

Ein harmonisches Duett am Berlin-Kolleg

Ihre Unterrichtsstile könnten kaum unterschiedlicher sein, doch auch dieses weite Spektrum trägt dazu bei, das die verschiedenen Lernenden am Kolleg in ihrer Vielfalt angesprochen werden. Der Wechsel aus digitalen Lehrstategien wie bei Herrn Lehmann und einem eher traditionellen Lehrstil wie bei Herrn Hoyer schafft in Summe ein Bildungsumfeld, das zu einem Mosaik des Lehrens und Lernens verschmilzt. Während Herr Hoyer eher durch bewährte Techniken das Wissen in den Köpfen der Kollegiat*innen verankert, fördert Herr Lehmann ihre technologische Kompetenz und hilft ihnen so auch dabei, ihren individuellen Weg zum Verständnis des Lehrstoffs zu finden. Außerdem hinterlässt der Unterricht der beiden unterschiedlichen Lehrer jeweils nicht nur fachliches Wissen, sondern prägt die Kollegiat*innen auch auf einer persönlichen Ebene. Herr Hoyer beweist, dass die Tafel und der Overhead-Projektor auch heute noch ihre Daseinsberechtigung haben und dass es nicht die eine “richtige” Methode gibt. Beide Lehrkräfte zeigen mit ihrem Auftreten, dass ein wichtiger Schlüssel zum erfolgreichen und effektiven Lehrer-Dasein vor allem auch in Authentizität liegt. Herr Lehmann und Herr Hoyer demonstrieren gemeinsam, wie man die Stärken der Vergangenheit mit den Chancen der Zukunft verbinden kann.