Triggerwarnung: Suizid, Folter
„Unheimlich, wenn dich dein Mutterland
wie eine betrunkene Rabenmutter vom Straßenrand anbellt.
Mit einem Gummiknüppel winkt uns die Strafkolonie zu.
Die Seelen werden dunkel verstümmelt werden.
Ich wische mir die salzige Wehmut von den Wangen
und tue so, als wäre ich davon belustigt.
Was werden wir tun, wenn ein überheblicher Bulle
uns Drogen unterjubelt?
Wir sind so leicht gebrochen.
Wir sind gehorsame zerbrechliche Schräubchen.“
– Pornofilmy “Ya tak boyus” (“Ich habe so sehr Angst”)
Übersetzt von Daria Modin
https://youtu.be/m3d2ERl_rpA
2016 verstarben in Russland 99 Menschen in Polizeigewahrsam. 46 davon begingen Selbstmord, bei 38 lautete die Todesursache “plötzliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes”. 2018 kursierte im Netz ein Video, auf dem zu sehen war, wie 15 Beamte der Strafkolonie in Jaroslawl einen Menschen foltern, indem sie ihn, mit dem Gesicht nach unten, an einem großen Tisch festhalten und mit Gummiknüppeln unaufhörlich auf seinen Kopf, Handgelenke und Fersen einschlagen. Nach einer Prüfung des Videomaterials stellte die Ermittlungskommission fest, es liege kein Straftatbestand seitens der Beamten vor.
Dieses Jahr gingen in ganz Russland ca. 300 000 Menschen auf die Straßen, um gegen die Festnahme des oppositionellen Politikers Nawalny und die Korruption des Putin-Regimes zu protestieren. 10 000 Menschen wurden dabei verhaftet, Dutzende von Demonstrant:innen schwer verletzt. In Moskau entsprach die Zahl der Verhafteten in etwa der Kapazität von den vorhandenen Gefangenensammelstellen. Es wurden 90 Strafverfahren eröffnet – die Freispruchquote in Russland beträgt 0,36 Prozent.
Wenn ich im Anschluss an die beim Schulfest geführten Interviews mich selbst befrage, was für mich Mut bedeutet, habe ich diese Bilder vor Augen.
Wenn ich weiter an Mut denke, denke ich an die Hunderttausende von Menschen, die sich jährlich auf die Flucht über das Mittelmeer begeben – auf der Suche nach einem sicheren Leben. Ich denke an die Frauenrechtlerinnen in Afghanistan, die gegen die Taliban gekämpft haben. Ich denke an die Schwarzen Trans Frauen, die den Stonewall-Riot 1969 angeführt haben. Es sind wirre und vielfältige Bilder. Und dann denke ich an Moria und an das Scheitern der deutschen Rettungsaktion. Ich denke an die Queer Feindlichkeit der Europafußballmeisterschaft, an die Entführungen und Folter queerer Menschen in Tschetschenien, an das neue Abtreibungsverbot in Texas.
Ich denke daran, dass die Proteste in Russland, Belarus, Hongkong und den USA im letzten Jahr Menschenleben, seelische Traumata, körperliche Verletzungen und so unfassbar viel Mut gekostet haben, bloß damit in den Nachrichten wieder die Pandemie und der Eurovision Song Contest zu den Hauptthemen werden.
“Es ist mutig, sich selbst auszuhalten” – diesen Satz sprach Frau Kunze, als ich sie danach fragte, was Mut für sie bedeute. Vielleicht bedeutet Mut auch, die Realität auszuhalten. Die grausame, ungeschminkte, ungerechte, auszehrende, sinnlose und blanke Realität. Ist das nicht zu viel verlangt, im Angesicht dieser Realität nicht aufzugeben?
Auf meine Frage nach dem, was das Mutigste gewesen sei, was sie je gemacht habe, antwortete eine der Kollegiatinnen: “Weitermachen”. Diese Antwort hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Vielleicht weil sie so entwaffnend ehrlich war, vielleicht weil sie so wahr war.
Wenn es darum geht, Mut zu definieren, gehen die Antworten gar nicht so weit auseinander. Mut ist die Überwindung des Selbst, der eigenen Angst. Doch so unterschiedlich wie die Ängste der Menschen sind, so unterschiedlich kann auch Mut sein.
“Mutig ist, seinen Crush anzuschreiben.” – sagte mir einer der Kollegiaten. Eine legitime Antwort.
Das Mutigste, was ich je gemacht habe, war es, den Vater meiner Kinder herauszuschmeißen und zu sagen: „Ich gehe meinen eigenen Weg”. Zweifellos mutig.
“Am meisten Mut erfordert es, vor einer Klasse zu sprechen, – sagte eine Kollegiatin, – denn ich habe eine soziale Phobie”
“Das Mutigste, was ich je gemacht habe, war, mich mehr für mich selbst zu entscheiden” – lautete eine der Antworten.
Eine Lehrperson antwortete lachend: “Zu heiraten. Ich hatte das überhaupt nicht vor, aber es war eine gute Entscheidung”.
Eine andere Lehrperson meinte ganz verlegen, er sei gar nicht mutig und könne sich an nichts besonders Mutiges erinnern, was er je gemacht habe. Doch ich möchte meinen, dass es einiges an Mut erfordert, dazu zu stehen, dass man gar nicht mutig sei.
Der Mut ist etwas, was Menschen nachgesagt wird, die das tun, was sie für richtig halten. Die meisten Menschen, die wir für die Mutigsten dieser Erde halten, würden sich selbst wahrscheinlich nie als mutig bezeichnen. Diese Menschen werden sich wenig gefragt haben, wie ihr Handeln zu bezeichnen sei. Dafür sind sie zu sehr mit dem Handeln selbst beschäftigt. Auch mir ist bei meiner Umfrage aufgefallen, dass die meisten Menschen auf die Frage nach ihrer mutigsten Tat sich am ehesten an die Tat erinnern konnten, die andere als mutig bezeichnet haben. Es bedurfte längeren Überlegens für sie, sich an eine Tat zu erinnern, die sie selbst als mutig bezeichnen würden.
Die mutigsten Taten sind für die Handelnden bloß notwendig und richtig. Mut ist also scheinbar keine Eigenschaft, sondern eine Zuschreibung, die eine moralische Wertschätzung einer Person, ihrer Werte und Handlungen ausdrücken soll.
Doch wenngleich wir manche Menschen für ihren Mut loben, sollten wir andere nicht danach bewerten, wie viel Mut sie in unseren Augen aufzubringen vermögen. Was es einen sozial ängstlichen Menschen kostet, vor einer Klasse zu sprechen, kann man nicht damit vergleichen, was es einen nicht-ängstlichen Menschen kostet. Wie viel Mut eine queere Person für ihr Coming-Out aufbringen muss, kann kein nicht-queerer Mensch verstehen. Wie viel Mut es für manche Menschen mit psychischen Belastungen erfordert, ihren bloßen Alltag zu bewältigen, kann sich keine neurotypische Person ausmalen.
Es scheint also nicht der Fall zu sein, dass manche Menschen mutig sind und andere nicht. Es ist wohl vielmehr so, dass Menschen unterschiedliche Dinge ein ganz unterschiedliches Maß an Überwindung kosten. Dieser Tatsache sollten wir bei jedem Gespräch über Mut und Mutlosigkeit immer Rechnung tragen.
Quelle :
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