Inmitten von Nichts steht eine verlassene Fabrik, umschlungen von chaotischen Wildkraut, das hier, angesichts seiner mächtigen Präsenz, schon vor einer langen Zeit die Herrschaft übernommen hat. Düster und schaurig wirkt die Vorstellung, das Gelände zu betreten. Überwiegt die Lust zum Geheimnisvollen, pocht die Aufregung mit jedem weiteren Schritt. Äste knacken. Windböen pfeifen. Der Putz bröckelt nachts. Alteingesessene Raben warnen, die rostige Türe öffne sich im nächsten Moment von innen. Doch nichts. Glasige, betäubte Fenster erzählen von ihrer Einsamkeit. Kann man ihnen trauen? Mit einem vorschnellen Griff ist die widerspenstige Tür geöffnet. Sofortige Bereitschaft zur Flucht. Doch dann, Ruhe. Ehrfurcht. Der Blick schweift. Friedvolle Wasserlachen spiegeln die traurige Schönheit. Ein zarter Lichtstrahl funkelt quer durch die stillgelegte Arbeitslandschaft. Wie viel leere Zeit hier vergangen ist, lässt sich nur anhand der staubbedeckten Maschinen erahnen. Es ist viel Zeit. Stehengebliebene Zeit. Stehengebliebene Leere.
Vom 22.10. – 30.12.2021 präsentiert der Kunstverein Tiergarten von Berlin seine Ausstellung „Voids of Presence – Between past and future“, welche von insgesamt 14 internationalen Künstlerinnen unterschiedlicher Generation und Herkunft gestaltet wurde. Die sowohl aus Berlin, als auch aus Ost- und Westeuropa stammenden Künstlerinnen setzen sich in ihren Werken mit „Leerstellen“ auseinander. Dabei entdecken sie die sogenannten „Voids“ in unterschiedlichsten Bereichen und Erscheinungsformen und schaffen es, diesen durch ihre Arbeit, Ausdruck und Existenz zu verleihen.
Betrachtet man Leerstellen im Sinne eines „absoluten Raumes“, rücken vor allem leerstehende Gebäude in den Vordergrund. Verlassene, heruntergekommene Krankenhäuser, zerfallende Schwimmbäder oder stehengebliebene Bauprojekte sind nur einige von vielen Beispielen für sogenannte „Lost places“, die bei uns Menschen ganz entgegengesetzte Eindrücke hinterlassen: während die alten Ruinen für einen Teil der Gesellschaft schlicht und einfach als unnutzbarer Raum betrachtet werden, sind andere von der Atmosphäre dieser „vergessenen Orten“ zutiefst fasziniert.
„Es sind Zwischenwelten“, sagt Fotograf Stefan Hefele,
„eigentlich gibt es sie nicht mehr, aber sie sind doch noch da.“
Seit geraumer Zeit ziehen die „Geisterorte“ vor allem Hobby- und Profifotografen an. Aus der ästhetischen Ablichtung von unwirklich scheinendem Ambiente hat sich in den letzten Jahren ein aufblühender Hype für die morbide Kunst entwickelt.
„Ein verlassenes Gebäude birgt meistens einen gewissen Gruselfaktor“, erklärt Hefele. „Da springt das Kopfkino an und man fragt sich: Was ist dort passiert?“ Die Geschichte dahinter beschäftigt auch Igor Grubić, eine internationalen Künstler kroatischer Herkunft. 2006 begann er das Projekt „Traces of Disappearing: In Three Acts“, bei dem er den Betrachter seiner Kunst dazu anregen möchte, den vergangen sozialen Wandel der Industriegesellschaft und die mit ihm verbundenen Veränderungen der damaligen Zeit wahrzunehmen und zu reflektieren. Dabei zeigt Grubić, wie alte Situationen durch neue ersetzt wurden, und betrachtet den Einbezug dieser als eine Basis für Visionen unserer zukünftigen Welt und unser damit verbundenes kommendes Leben in dieser Welt.
Noch bis zum 30.12.2021 können Besucher des Kunstvereins einen Teil des Projektes betrachten. „How Steel was Tempered“ ist ein kurzer Animationsfilm, der auf ein achtteiliges Fotoessay aufbaut. Zwischen 2006 und 2019 besucht Grubić verschiedene Fabriken der Industrialisierungszeit, lichtet diese ab und taucht tief in die Geschichte und das jeweilige Schicksal der historischen Monumente ein. Jedes Teil seines Essays präsentiert der Künstler aus einem Zusammenspiel von Fotografie und Text. Durch die Hervorhebung einer spezifischen Farbe in jeder Darstellung betont Grubić die Einzigartigkeit der verlassenen Bauwerke. Informationen zur Vergangenheit eines Gebäudes sowie die eigene Eindrücke platziert der Künstler dezent in einem Text unterhalb seiner Fotografie. Aus diesem geht auch die Bedeutung hervor, die Grubić den Lebensumständen der Arbeiter dieser Fabriken zuspricht und kommunizieren möchte.
Sein Animationsfilm lädt zusätzlich dazu ein, sich in die Erinnerungen und Empfindungen eines ehemaligen Fabrikarbeiters einzufühlen, welcher mit seinem jugendlichen Sohn, seinen frühere, heute stillgelegte Arbeitsstelle besucht. Interessant ist hierbei insbesondere die gegensätzliche und individuelle Wahrnehmung der beiden gegenüber diesem Ort. So bestärkt der Film auch die Tatsache, wie stark unser Innenleben an die Erinnerungen einer Umgebung geknüpft sind aber auch wie schwer greifbar es für eine neue Generation ist, sich in die Umstände einer früheren Situation hineinzuversetzen. Man kann annehmen, dass Grubić mit seinem Film auch darauf abzielt, auf die Leerstelle zwischen den Generationen aufmerksam zu machen. Damit ist die Ausstellung der „Voids“ eine sehenswerte Ausstellung für Alt und Jung.
Quellen:
https://www.sueddeutsche.de/panorama/
fotos-von-lost-places-herrlich-morbide-1.4176790
http://website.kunstverein-tiergarten.de
Titelbild : https://wallpaperaccess.com/old-factory#google_vignette