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Patrick: Der erste Bildungsweg öffnet nicht allen die Tür

Ich treffe Patrick auf dem Schulhof. Nachdem ich versucht habe, ihn telefonisch zu erreichen, steigt er elegant von seinem Fahrrad und wir laufen uns etwas aufgeregt, doch augenscheinlich entspannt entgegen. Wir umarmen uns leicht zögernd und überlegen uns dann für das Interview in den Schulgarten zu gehen.

Dort arbeitet gerade Frau Schäfer an einem Blumenbeet, die beiden begrüßen sich herzlich und es wird deutlich, dass die beiden ein vertrautes Verhältnis zueinander pflegten.

Patrick trägt ein kariertes Hemd und mindestens 3 Umhängetaschen. Er kommt gerade aus der ‚Bib‘ (Bibliothek), wie er mir schon vorher per Sprachnachricht berichtet. Ein richtiger Student, so wie man sich ihn vorstellt. Nach dem Interview werde ich ihn per WhatsApp nochmals fragen, was er genau studiert, und er wird antworten:

„Ist ein Interdisziplinärer Studiengang, der sich Kultur und Technik tauft. Dort fließen unterschiedliche Gebiete mit ein, von denen eines als Kernfach dient. Das sind Sprache und Kommunikation, Philosophie, Wissenschafts-/ und Technikgeschichte, Kunstwissenschaften sowie Bildungswissenschaften. Ich studiere Kultur und Technik mit dem Kernfach Bildungswissenschaften (Bachelor of Arts, fünftes Semester), kurz BiWi KulT“

Wir setzen uns auf zwei Stühle in Richtung Sonne. Patrick gießt sich Tee aus seiner Thermoskanne ein und ich starte die Aufnahme auf meinem Handy. Patrick freut sich, interviewt zu werden und berichtet, dass er selbst auch mal beim Journalistischen Schreiben mitgemacht hat: „Doch dann habe ich glaube ich die Q1 wiederholt und weiß nicht, ob es mir was gebracht hat bzw. ob es anders gelaufen wäre.“ Er kommt ins Grübeln: „So ein gutes Abi habe ich jetzt auch nicht gemacht; 3,4 ist bisschen knapp.“

Hindernisse im Leistungskurs

Patrick wirkt plötzlich etwas kleiner, wenn er von den Anforderungen im Englisch-LK berichtet, denen er nicht immer gewachsen war. Dabei erklärt er auch, dass das Verhältnis zu seiner Tutorin, um es mit seinen Worten auszudrücken, nicht gerade das Beste gewesen sei.

Patrick weiß sich sehr diskret auszudrücken und geht nicht auf weitere Einzelheiten ein. Ich werde aber neugierig und das nicht nur, weil ein bisschen Drama jeder Story eine gewisse Würze verleiht, sondern vor allem, weil ich viele Parallelen zwischen meinen Schulerfahrungen und denen des ehemaligen Kollegiaten Patrick entdecke. Ich vermute, dass das Thema ADHS hier eine entscheidende Rolle gespielt haben könnte.

Neugierig baue ich Kontakt zu Patricks ehemaliger Tutorin auf. Eine ihrer zentralen Aussagen lautet: „Mit der Wahl des Englisch-LK hat Patrick für sich sicher keinen leichten und ganz und gar nicht stolpersteinfreien Weg gewählt. Hätte es eine Alternative gegeben – das weiß ich nicht, denn ich habe ihn erst im LK kennengelernt -, hätte ich ihm bei der Beratung in der E-Phase aufgrund der reinen Sprachkenntnisse von seiner LK-Wahl abgeraten.“ Ein Statement, welches Patrick mir gegenüber vorab genauso abgibt. Grundsätzlich fällt mir bei meiner Recherche auf, dass die beiden viele deckungsgleiche Aussagen treffen.

Patrick wird von ehemaligen Lehrkräften als sehr engagierter, sozialer und offenherziger Kollegiat beschrieben, und so habe auch ich ihn kennenlernen dürfen. Ich begegne Patrick zum ersten Mal auf dem Sommer-Schulfest, seine raffinierte Art sich auszudrücken und sein emphatisches Auftreten lässt mich damals auf die Idee kommen, ein Interview mit ihm zu führen. Mein erstes Gefühl scheint sich während meines Interviews und danach zu bestätigen.

Meine Einschätzung der schulischen Situation

Bei meinen Recherchen habe ich einen klaren persönlichen Eindruck gewinnen können: Die kognitive Denkleistung ist sicher nicht das Entscheidende gewesen, das dem ehemaligen Kollegiaten Patrick damals größere Probleme bereitet hat, den Bildungsgang erfolgreich zu absolvieren. Aber es gibt nun einmal eine – an eine ziemlich rigide Norm angepasste – Struktur im deutschen Bildungswesen. Und jemand, der andere Denk- und Verhaltensmuster pflegt, wird oft als unstrukturiert (oder Schlimmeres) abgestempelt. Nach meiner Erfahrung fehlen vielen Lehrkräften hier als Teil dieses Systems das Verständnis und vor allem auch Mittel und Möglichkeiten, diese Andersartigkeit zu unterstützen und eventuell sogar die daraus entstehenden Stärken zu fördern.

Patrick gibt aber auch zu, dass er zu BK-Zeiten nicht so offen mit seinen Defiziten umgehen konnte, was eine Unterstützung von außen erschwert hat.

Was bedeutet dir das Abitur?

Wieso wolltest du überhaupt dein Abitur, frage ich Patrick zwischendurch. „Die meisten in meinem Umfeld hatten bereits ein Abitur oder lebten zufrieden – sozusagen für immer angestellt.“ Und doch, trotzdem, irgendetwas in ihm wollte dazugehören. Dazu, das heißt zu den Akademikern, die ihr Leben erweitern wollen, um nicht mehr „nur“ angestellt zu sein.

Dazu fehlte Patrick zu Beginn aber noch die abgeschlossene Ausbildung oder die nötige Berufserfahrung, wie Frau Voss, die Sekretärin, ihm nach dem ersten Anmeldungsversuch 2014 mitteilte.

Patrick ändert seine Tonart, wenn er über seine Zeit vor dem Berlin Kolleg berichtet. Mit etwas vorsichtig klingender Stimme fügt er hinzu: „Ich hab schon lange darüber nachgedacht mein Abitur zu machen, muss ich gestehen, weil ich schon zwei Ausbildungen angefangen und wieder abgebrochen habe“

Das finde ich spannend und möchte noch etwas mehr darüber erfahren. Die Ausbildung zum medizinischen Bademeister und Masseur klingt sehr interessant und hat Patrick auch viel Freude bereitet, aber sein damaliger Pendelweg war zu lang und überhaupt fühlte er sich damals mit siebzehneinhalb den Herausforderungen noch nicht gewachsen. Er lieferte Essen aus oder jobbte im Einzelhandel bei Kaiser‘s und Edeka, dort genoss er das gemeinschaftliche Arbeiten und war eine Zeit lang ganz zufrieden damit, einfach routinierte Arbeiten verrichten zu können.

Mit dem Vorkurs stieg er am Berlin-Kolleg ein und brachte somit wieder ein bisschen Schule zurück in seine Lebensroutine.

The struggle is real

„Das Schöne war, man hat hier sehr viele Menschen kennengelernt, die mit einem im selben Boot saßen.“ Wir lachen und stellen fest, dass es ein Boot auf stürmischer See ist, in dem wir beide sitzen und dabei versuchen, uns in Richtung Abi fortzubewegen. Eben nicht für alle immer so einfach zu erreichen. Patrick berichtet von vielen Mitkollegiaten:innen , die es nicht geschafft haben, vor allem aufgrund von mangelnder Motivation: „Kamen aus dem Knick nicht

mehr raus“, fügt er mit kritischem Blick hinzu. Auch wenn der zweite Bildungsweg die Chance ermöglicht, der Schule mit mehr Reife zu begegnen, bringt nicht jedes Erwachsenenleben weniger Belastung mit sich.

Patrick nimmt einen Schluck von seinem Tee und erinnert sich daran, wie viele Kollegiaten:inen mit heftigen und weniger heftigen Geschichten das BK als zweite Chance aufsuchten und erfolgreich nutzten.

Es ist eine sehr angenehme, wenn auch leicht windige Gesprächssituation, in der ich mich mit Patrick befinde, und doch bemerke ich bei mir einen Energieverlust, der scheinbar nur mich selbst betrifft, denn nachdem ich die Audio beende und versuche, ein elegantes Ende für die Situation zu finden, blickt Patrick mich etwas überrascht an.

Am Ende des Gespräches gehen wir noch einmal zurück in den Flur und bleiben bei den Fotos der Lehrkräfte stehen. Jetzt werden weitere Namen genannt und Patrick erinnert sich dabei an gute und weniger gute Zeiten. Frau Schäfer stößt dazu und freut sich, noch einige Sätze mit Patrick austauschen zu können.

Ich lächele dankbar in mich hinein und hoffe, dass so herzliche Menschen wie Patrick und Frau Schäfer das Berlin-Kolleg für immer prägen werden.