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Wir Kollegiat*innen: Kerstin (Teil 6 von 7)

Kerstin – Es ist weder falsch, noch zu spät, um stolz auf sich selbst zu sein

Sie fällt auf, wenn sie ihren Schulrucksack in den Fluren des Berlin-Kolleg hinter sich herzieht. Eine Fahrradkette als Armschmuck lässt darauf schließen, dass sie eine individuelle Persönlichkeit ist und auch ansonsten entspricht sie mit ihren nunmehr 57 Jahren keineswegs dem typischen Durchschnitt jener Menschen, die ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachholen. Kerstin ist eine von hunderten Kollegiat*innen am Berlin-Kolleg und sagt von sich selbst, dass sie nicht ins System passe. Aus einer Studie zum Thema “Bildungsverläufe an Abendgymnasien und Kollegs” von der Hans Böckler Stiftung aus dem Jahr 2019 geht (s.o.) hervor, dass Kerstin mit ihrer Einschätzung durchaus richtig liegt.

Auch beim Thema Wohnen sticht Kerstin als Kollegiatin heraus. Es ist ja ein offenes Geheimnis, dass die Wohnungssituation in Berlin im Allgemeinen als desolat beschrieben werden kann. Auch aus diesem Grund lebt Kerstin mit ihrem Mann und ihren beiden erwachsenen Söhnen in einer gemeinsamen Wohnung. Kerstins Wohnsituation, in der eine Kollegiatin mit Partner und Kindern zusammenwohnt, ist laut der Hans Böckler Stiftung ein wirklich seltenes Phänomen und wird mit einem Anteil von 0,3% an der gesamten Kollegiatenschaft in Deutschland beziffert. Eine Umfrage der BK Journalist:innen aus dem Frühjahr 2023 bestätigt dies in der Tendenz auch für das Berlin-Kolleg als Einzelinstitution:

Aller Widrigkeiten zum Trotz geht sie ihren Weg

Als Kerstin im Herbst 2021 in der E-Phase anfängt, wird sie durch eine schwere Krankheit ausgebremst, so dass sie auch aufgrund der vielen Fehlzeiten gezwungen ist, das Schuljahr zu wiederholen. Auch die zwischenmenschliche Chemie im vorherigen Klassenverband beschreibt sie als nicht immer ideal. Manchmal spiegelt sich der Generationenkonflikt eben auch in einem Klassenzimmer wider, was den Schulalltag erschweren kann. Es sei schon viele Jahre her, dass sie das letzte Mal eine allgemeinbildende Schule besucht habe und entsprechend schwer falle ihr oft das Lernen, was sie durch anhaltenden Fleiß wettzumachen versucht. Technische Hürden spielen ebenfalls eine Rolle für Kerstin und beginnen anfangs für sie schon beim Ausdrucken der Hausaufgaben. Das Beherrschen technischer Grundfertigkeiten ist nun mal ein fester Bestandteil des Schulalltags des 21. Jahrhunderts, aber Kerstin beißt sich durch. Die Funktionalität eines Smartboards sei ihr völlig fremd gewesen, doch sie sei mit viel Empathie von einer Lehrkraft ermutigt worden, sich mit der neuen Technik vertraut zu machen, überwindet ihre Scheu und bringt schließlich sogar vorne etwas an die Wand.

Das schwierigste Hindernis für sie sei es jedoch, wenn man die Diskreditierung “böser Menschen” erfahre, wenn man im höheren Alter den Mut aufbringe, das Abitur nachholen zu wollen. Sätze wie “Was willst du denn in deinem Alter noch mit Abitur?” oder “ Du schaffst doch dein Abi eh nicht!” fallen ihr gegenüber in ihrem Privatleben häufiger und können ziemlich am Ego kratzen. Doch beirren lässt Kerstin sich von solchen Worten nicht und fragt scherzhaft, ob jene Leute, die so etwas sagen, vielleicht neidisch seien, dass sie diesen mutigen Schritt einschlage. Und sie appelliert auch an andere, dass es nie zu spät sei für persönliche Veränderungen im Leben.

Kerstins schwierige Ausgangssituation

Als Kind ist Kerstin eine Nachzüglerin von Eltern, die in den 20er Jahren geboren werden und heute fast 100 Jahre alt wären. Zu jener Zeit entspricht es oftmals nicht dem gesellschaftlichen Narrativ, zumal als junges Mädchen eines Arbeiterhaushaltes, das Abitur abzulegen. In jedem Fall aber sei sie als Kind nicht im gleichen Umfang gefördert worden wie ihr damals deutlich älterer Bruder. Außerdem erliegt ihr schichtarbeitender Vater auf der Arbeit einem Herzinfarkt, als sie gerade einmal 15 Jahre alt ist, was für die ganze Familie eine besondere Herausforderung darstellt. Da die Mutter nicht an sie glaubt, sei Kerstin an falsche Freunde geraten und in Kontakt mit verbotenen Rauschmitteln gekommen, weshalb der Weg einer soliden Bildung vorerst eine für sie verschlossene Tür bleibt.

In der eingangs erwähnten Studie der Hans Böckler Stiftung werden 15 Gründe eruiert, warum zunächst im ersten Bildungsweg kein höherer Abschluss angestrebt wurde. Als mögliche Ursachen wird dabei unter anderem das aktive Abraten sowohl von Lehrern als auch durch die Familie untersucht und als möglicher Faktor betrachtet, den angestrebten Abschluss nicht zu verfolgen. Wie gezeigt decken sich diese Faktoren mit Kerstins persönlichem Lebensweg, auch wenn das für die Mehrzahl der anderen Kollegiatinnen und Kollegiaten eine eher untergeordnete Rolle spielt (die entsprechende Umfrage unter Kollegiat*innen des Berlin-Kolleg findet ihr übrigens in dem Beitrag über Josephine). 

Heute ist Kerstin um einiges an Erfahrung reicher. Eine erfolgreiche Tischlerausbildung liegt hinter ihr, dazu mehrere Jahre Berufserfahrung. All dies lässt sie zu jener Frau werden, die sie heute ist. Eine Frau, die sagt, dass sie Biologie mit dem Schwerpunkt der Genetik studieren wolle, weil sie die Frage beschäftige, warum die Blödheit der Menschen nicht aussterbe. Eine Frau, die lieber Kekse isst, anstatt sich über andere Menschen aufzuregen und sich trotz Infragestellung Dritter nicht verunsichern lässt. Eine Frau, die sich auf das Unterrichtsfach Deutsch freut und sowohl PW als auch Geografie liebt. Ihr Potenzial voll ausschöpfend sagt sie heute: ”Ich brauche ein Erfolgserlebnis, was ich alleine gemacht habe. Das macht mich stolz, denn das ist Meins.” Und auch dieser Satz charakterisiert Kerstins Einstellung zu sich selbst und ihrer Wirkungsstätte Berlin-Kolleg: „Jede 4, die ich schreibe, gehört mir und darauf bin ich stolz.”

Wer Abi machen will, der muss an sich glauben! Viel Erfolg dabei, Kerstin.


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