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Wir Kollegiat*innen: Khalida (Teil 7 von 7)

Khalida – vom Großstadtkind zum Landei und zurück

„Ich war immer die Älteste“ ist ein Satz, der einen wichtigen Teil von Khalidas Erfahrungen im deutschen Bildungssystem prägnant auf den Punkt bringt. Viele Jahre lang lernt sie in deutschen Schulen gemeinsam mit Kindern, die mehrere Jahre jünger als sie selbst sind. Ein Beispiel: Als Zehnjährige besucht sie im beschaulichen Verden, einer Kleinstadt in Niedersachsen, inmitten von lauter Sieben- und Achtjährigen die zweite Klasse. Der Grund dafür hat jedoch rein gar nichts mit Khalidas individuellen Lernvoraussetzungen zu tun, sondern erklärt sich vielmehr aus ihrer Herkunft und Familiengeschichte.

Khalida die Kollegiatin spricht akzentfrei Deutsch und hat sich das Unterrichtsfach Deutsch auch zu ihrem Leistungskurs erwählt. Aber dieser Umstand bedeutet nicht, dass Deutsch auch ihre Muttersprache wäre. Damit ist sie als Kollegiatin bei weitem keine Ausnahme, wie die nachfolgende Statistik der BK Journalist:innen zeigt. Die hier präsentierten Zahlen sind laut verschiedenen Studien zum Zweiten Bildungsweg in etwa repräsentativ:

Gebürtig stammt Khalida wie viele andere Kollegiat*innen nicht aus Deutschland, sondern aus Kabul in Afghanistan, wo ihre Familie bis kurz vor der Jahrtausendwende lebt und über Jahre und Jahrzehnte auch ein komfortables Leben führt. Als eine von Millionen Menschen in Deutschland hat Khalida also eine Migrationserfahrung gemacht, die in ihrem Fall jedoch alles andere als freiwillig abläuft. Inmitten der Bürgerkriegswirren um die erste Taliban-Regierung beschließt Khalidas Famillie nämlich aufgrund einer Bedrohung von Leib und Leben von einem Tag auf den anderen, das Heimatland Afghanistan für immer zu verlassen. Mit dem Taxi flüchten sie in einer von militärischer Gewalt geprägten Situation zunächst zu Verwandten und machen sich von dort zu Fuß auf den beschwerlichen Weg in Richtung Europa. Dieser Weg wird die junge Familie – Khalida und ihr älterer Bruder sind noch im Kindergartenalter – wie so viele andere Geflüchtete auch auf einem überfüllten Boot über die gefährliche Mittelmeerroute führen. Die Überfahrt gelingt und am Ende eines längeren, mehrere Jahre umfassenden Prozesses steht ein Schutzstatus, der Khalida und ihrer Familie ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland einräumt.

Stolpersteine auf dem Weg zum Bildungserfolg in Deutschland

Auf dem Weg zu diesem Aufenthaltstitel aber verbringt die Familie auch einige Jahre in den Niederlanden. Als sich alle bürokratischen Wirren endgültig geklärt haben, ist Khalida so bereits neun Jahre alt, als sie in Deutschland eingeschult wird. Einen deutschen Kindergarten besucht sie nie.

Eine so dramatische Fluchterfahrung geht natürlich an keiner Familie spurlos vorbei und ist oftmals auch mit traumatisierenden Erlebnissen verbunden. Im Falle von Khalidas Familie sind diese Auswirkungen deutlich zu verspüren und schlagen sich auch langfristig auf verschiedenen Ebenen nieder. Für den ehemals hohen gesellschaftlichen Status und den damit verbundenen Reichtum in Afghanistan kann sich die Familie hier in Deutschland gar nichts kaufen. Als Flüchtlinge in einem fremden Land bedeutet das Schutzgesuch in Deutschland zwar auf der Habenseite dauerhafte Sicherheit und körperliche Unversehrtheit, jedoch auch einen deutlich zu verspürenden sozialen Abstieg. Schlimmer noch muss die Familie aufgrund ihres abrupten Aufbruchs fast alle materiellen Güter hinter sich lassen und wird auf ihrer Flucht auch noch bestohlen, so dass sie als vollkommen mittellose Asylsuchende in Europa anlanden.

Beide Eltern erkranken im Laufe von Khalidas Kindheit und Jugend chronisch, so dass zusätzlich zur Sprachbarriere und den kulturellen Unterschieden für Khalida und ihre Geschwister noch weitere Stolpersteine bestehen, die verhindern, dass sich die Eltern unterstützend um die Kinder in Sachen Bildung kümmern könnten. Im Kern ist Khalida auf diesem Feld also gänzlich auf sich allein gestellt. Und natürlich herrschen in einer afghanischen Familie, die abrupt und unfreiwillig ihr Heimatland verlassen muss und in einer deutschen Kleinstadt landet, auch nach der Flucht in ein ihr zunächst fremdes Land ganz andere kulturelle Werte und Normen vor, als dies in einer typisch deutschen Familie der Fall ist.

All dies sind sich ergänzende Faktoren, die einen Bildungserfolg der Kinder nicht gerade begünstigen. Schon früh zeigt Khalida überdies ein vergleichsweise unangepasstes Verhalten – auch innerhalb der eigenen Familie – das letztendlich in einem Ausbruch aus den familiären und sozialen Strukturen ihrer Kindheit und einer erneuten Flucht mündet. Khalidas schulischer Weg endet vorübergehend mit einem niedersächsischen Hauptschulabschluss, da ihr der nächsthöhere Abschluss (Realschule) knapp verwehrt bleibt.

Khalidas zweite Flucht – ein Ausbruch ins Ungewisse

Wieso flüchtet jemand mit Khalidas Lebensweg freiwillig in eine Lebenssituation, in der man komplett auf sich allein zurückgeworfen ist? All das hat auch, aber nicht nur, mit ihren bereits angedeuteten charakterlichen Eigenheiten zu tun. Darüber hinaus fallen ihr noch weitere Merkmale an sich auf, die sie wie folgt zusammenfasst:

Khalida beschreibt sich auch als sehr direkt im Umgang mit anderen Menschen: „Ich sage häufig einfach, was ich denke.“ Diese Selbstbeschreibung bestätigen auch andere Kollegiat*innen, die Khalida kennen, als ein für sie typisches Verhalten und weisen darauf hin, dass dies in Kombination mit Khalidas selbstsicherem Auftreten mitunter dazu führe, dass sie – fälschlicherweise, wie sie betonen – von einigen Menschen negativ wahrgenommen werde; innerhalb ihrer eigenen Familie kommen diese Verhaltensweisen jedenfalls, auch aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Normen und Rollenbilder, gerade auch in ihrer Zeit als Jugendliche nicht gut an.

Khalida sagt auch heute noch über sich, dass sie immer wieder ein inneres Gefühl überkomme, vor etwas flüchten zu müssen. So ähnlich muss es auch gewesen sein, als sie beschließt, dem Elternhaus in Verden den Rücken zuzukehren. Ihre zweite, dieses Mal selbst gewählte Flucht soll sie weg aus Niedersachen von ihrer eher konservativ geprägten Familie und hin in die liberale Millionenstadt Berlin führen. Ihr gesamtes damaliges Umfeld rät Khalida mit deutlichen Worten von diesem Plan ab, aber sie lässt sich nicht in ihrem Entschluss beirren. Als Folge ihrer ‚Dickköpfigkeit‘ ist die junge Frau mit den afghanischen Wurzeln in Berlin zunächst für mehrere Monate wohnungslos. Sie ist in dieser Situation in hohem Maße auf die Unterstützung von Sozialpädagog*innen angewiesen, denen sie bis heute noch für ihren Einsatz dankbar ist.

Weiter-Bildung in Berlin

Endgültig angekommen in Berlin holt Khalida inmitten der ersten Coronawelle zunächst ihren Realschulabschluss bzw. MSA nach. An diese Zeit auf einem Berliner Oberstufenzentrum erinnert sie sich gern zurück. Der Zusammenhalt sei in ihrer Klasse besonders gut gewesen. Berlin als Lebensumfeld gefällt ihr dabei ziemlich gut, allein die Schnelllebigkeit der Großstadt macht dem früheren „Landei“ Khalida hin und wieder noch zu schaffen. Ihren Weg auf das Berlin-Kolleg findet sie im Übrigen nicht etwa aufgrund eines ausgefeilten Karriereplans, sondern mit Hilfe einer Freundin aus dem Oberstufenzentrum, die am Kolleg den Vorkurs besucht und Khalida davon überzeugt, dass diese Schule auch für sie eine gute Wahl sein könnte. Ihre damalige Entscheidung bereut Khalida bis heute nicht:

„Das Abitur öffnet einem so viele Türen, selbst wenn man nicht studieren will. Es ist gut, hier zu sein“

Khalida, Kollegiatin am Berlin kolleg im Frühjahr 2023

Khalida sagt selbst, sie habe sich bisher im Leben eher treiben lassen und erst ziemlich spät den losen Plan gefasst, beruflich einmal als Grundschullehrerin arbeiten zu wollen. Als Endzwanzigerin schrecke sie jedoch der lange Weg dahin, der über ein Studium und Referendariat führt, etwas ab. Hier am Kolleg fühlt sie sich wohl. Nach ihrem Empfinden stehen an der Schule die Kollegiat*innen in vielerlei Hinsicht im Mittelpunkt. Dies zeige sich symbolisch bereits in den Fluren des Kollegs, die derzeit mit unzähligen fotografischen Porträts ehemaliger und aktueller Kollegiat*innen gesäumt sind. Nach Enttäuschungen am Kolleg befragt erinnert sich Khalida an die (nun geschlossene) Cafeteria zurück und beklagt die fehlende Möglichkeit, während der dreißigminütigen Pausen vor Ort etwas zu essen zu kaufen. Am meisten trauert sie dabei dem von ihr heißgeliebten Thunfischbaguette hinterher.

Abschließend gibt uns Khalida, die von sich behauptet, Konkurrenzdenken sei ihr fremd, noch etwas mit auf den Weg. Wir sollen unserem Auftreten gegenüber anderen Menschen nicht zu viel Gewicht beimessen:

Wir danken unseren sieben Kollegiat:innen für ihre Zeit und ihre Bereitschaft, uns und allen interessierten Personen einen realistischen Einblick in ihr derzeitiges Leben am Kolleg und vor allem ihren Weg hierher zu gewähren. Liebe Khalida, Amir, Kerstin, Roman, Simone, Josephine und Spyros: Viel Erfolg beim Erreichen eurer Ziele, ihr seid tolle Menschen!


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