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Wir Kollegiat*innen: Josephine (Teil 2 von 7)

Josephine: Früher an den Rand gedrängt, heute erfolgreich mit dabei

Josephine ist ein besonderer Mensch, denn sie sagt oft genau das, was sie denkt, und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Diese erfrischend ehrliche und direkte Art ist jedoch an ihrem ersten Bildungsweg eher Last als Segen.

Sie wächst in Berlin auf, liest viel, ist gerne zuhause und schätzt sich selbst als nicht so wichtig ein. Ihre Mitschüler und ihre Lehrer des ersten Bildungswegs verstehen ihre Art und ihren Humor überwiegend nicht und auf ihrem Zeugnis der zehnten Klasse stehen viele Fehlzeiten. Der Fokus ihres damaligen Gymnasiums: Gruppenarbeiten. Das Resultat: eine schlechte Mitarbeitsnote nach der anderen, denn sie arbeitet lieber allein. Die Lehrer zeigen wenig Verständnis für ihre introvertierte Art und die Mitschüler noch weniger. „Ich war frustriert.“- so beschreibt Josephine ihren damaligen Sportunterricht, denn sie bleibt stets als Letzte übrig. Sie überlegt sich daher die pfiffige Strategie, die Leute vorher abzuzählen und selbständig ihr Team zu wählen.                                                                                                                

 Die Strapazen der Schulzeit führen dazu, dass Josephine sich für eine Therapie entscheidet. In der Klinik, die sie drei Jahre lang besucht, lernt sie dann auch, was bei ihr im Vergleich zu anderen Menschen anders ist: Sie hat das Asperger-Syndrom. Josephine kann ihre Besonderheit in einem sehr prägnanten Satz erklären: „Mein Typus ist der, der nicht gut mit Menschen kann.“ Anfangs muss sie sich erstmal an den Besitz eines Behindertenausweises gewöhnen, doch dieser ermöglicht Josephine auch die Ausbildung als Fachangestellte für Medien und Informationsdienste mit der Fachrichtung Archiv.      

Mit diesem Werdegang gehört sie laut einer Studie des Leibniz-Informationszentrums für Wirtschaft (ZBW) über Bildungsverläufe an Abendgymnasien und Kollegs zu den 55,2 % der Schüler*innen, die über eine abgeschlossene Berufsausbildung zu Beginn des zweiten Bildungsweges verfügen. Da das Berufsbildungswerk ihrer Ausbildung jedoch keine Azubis übernimmt, findet Josephine sich nach ihrer Ausbildung trotzdem in der Arbeitslosigkeit wieder.

.„Ich habe es immer nur bis zu den Vorstellungsgesprächen geschafft. Einmal habe ich sogar so getan, als wäre ich zu „blöd“ für das Vorstellungsgespräch, nur damit mich jemand begleitet und mir sagt, was ich falsch mache… die Begleitung meinte aber, ich mache nichts falsch, ich kriege einfach den Job nicht.“

Josephine, Kollegiatin am Berlin kolleg im Frühjahr 2023

Neben der zehrenden Jobsuche versucht sie sich zwischenzeitlich an Kursen wie Spanisch an einer Volkshochschule.“ Irgendwann hörte ich nur noch: pero, pero, pero, que? Ich glaub, ich habe eine Spanisch- Legasthenie.“ erzählt sie schmunzelnd.

Der Weg und das Leben am Berlin-Kolleg

Durch ihren Bruder, der gerade selbst sein Abitur nachholt, hört Josephine das erste Mal etwas über das Berlin-Kolleg. Sie entschließt sich zum Besuch eines Vorkurses und gehört somit laut der ZBW-Studie zu den 8% der Schüler*innen an einem Kolleg, die einen solchen Kurs trotz eines erfolgreichen Realschulabschlusses und gymnasialer Vorerfahrung belegen. Der damalige Kampf um eine Fünf in Mathe im ersten Bildungsweg ist der Grund für Josephines Entscheidung. Später dann die Sensation: “Ich hatte erstaunlicherweise 15 Punkte in Mathe auf meinem Vorkurszeugnis“, berichtet Josephine.

Hier am Kolleg fühlt sie sich besser aufgehoben als an ihrer alten Schule, auch wenn ihr anfangs das Aussehen des Kollegs durch die Ähnlichkeit zu ihrer alten Schule nicht wirklich gefällt. Josephines eher negative Erfahrungen im ersten Bildungsweg scheinen vergleichsweise viele Menschen, die im zweiten Bildungsweg landen, zu teilen. Das zeigt zumindest eine Umfrage, die die BK Journalist:innen im Frühjahr 2023 am Kolleg durchgeführt haben:

Natürlich ändert sich für Josephine auch am Kolleg nicht alles zum Besseren. Sie gerät weiterhin regelmäßig in Situationen, in denen sie missverstanden wird oder den Raum nur schlecht lesen kann. „Ich verstehe mitunter gar nicht, warum das, was ich gerade gesagt habe, die Leute entweder erheitert oder erzürnt“, erklärt sie. Josephine versteht ihre Mitmenschen und deren Beweggründe für viele Aussagen also häufiger nicht wirklich, so dass sie tagelang über diese für sie kommunikativ schwierigen Situationen nachdenkt. Josephine vergleicht ihre besondere Art mit einem Meme, in dem eine Person in der Bahn in ihren Gedanken vertieft ist und gar nicht bemerkt, dass sie ihr Gegenüber in unpassender Weise anstarrt.                                         

„Ich habe Glück“, sagt die 30-Jährige und meint damit ihre Wohn- und Lebenssituation, denn sie erhält Bafög, hat weder Kinder noch einen Nebenjob, lebt bei ihrem Vater und hat, selbst wenn sie weniger Bafög bekommt, etwas angespart. Trotzdem fühlt sie sich manchmal benachteiligt, wie in Sachen Nachteilsausgleich, der ihr 15 Minuten mehr Zeit in Klausuren verschaffen würde. „Man sagte mir, dass ich einen Beweis für einen Nachteilsausgleich benötige…dabei habe ich bei meiner Ausbildung ein solches Attest bekommen, nur finde ich es nicht und möchte nicht nochmal zum Arzt“, erklärt Josephine neutral.

Smartboards, Moodle, iPads und Co – alles Sachen, die Josephine eher semi-gut am Unterricht findet. Den Online-Vertretungsplan hält sie zwar für ganz praktisch, doch nach acht Stunden Schule und der Dauerbeleuchtung ihrer Augen vergeht ihr manchmal die Lust auf ihr eigentlich praktisches Kindle und das Lesen. Wenn es nach ihr gehen würde, wären klassische Kreidetafeln oder noch besser: White Boards, die Lösung: „Wenn´s nicht immer eine Person geben würde, die mit Edding auf die Dinger kritzelt“, gibt sie zu bedenken.

Den öffentlichen Verkehrsmitteln in Berlin könne man nicht trauen und besonders nicht der Ringbahn. Josephine nimmt deshalb lieber die Tram, auch wenn diese viel länger braucht. So beträgt ihr Weg in eine Richtung etwa eine Stunde und 15 Minuten, für Berliner Verhältnisse also nichts allzu Ungewöhnliches. Josephine gehört damit laut einer Umfrage der BK-Journalist:innen zu den 10,7 % der Kollegiat*innen, die 60 bis 120 Minuten für ihren Schulweg benötigen. Sie plant zwar nicht gerne, aber noch verhasster ist für sie Unpünktlichkeit. Mehrere Wecker stellen daher sicher, dass sie früh genug aus dem Haus geht.

Josephine macht deutlich, dass ihr Ziel am Kolleg eindeutig das Abitur ist. Alles andere sei für sie keine Option.

Nach dem Berlin-Kolleg

Mit dem Abitur möchte sie später gerne studieren, was genau, weiß sie zwar noch nicht, aber das hält sie nicht davon ab, schon über Planungsfehler ihrer Kurswahl nachzugrübeln. „Vielleicht habe ich die falschen Kurse und kann in der Kombination nichts Richtiges studieren“, sagt sie nachdenklich. Dass sie kein Französisch gewählt hat, macht ihr besonders zu schaffen, denn Josephine sorgt sich, dass dies bspw. bei einem Geschichtsstudium dringend zum Leseverstehen notwendig sein könnte.

Aber wohin auch immer es Josephine verschlägt: Sie wird ihren Weg finden und Hürden zu bewältigen wissen.


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