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Wir Kollegiat*innen: Simone (Teil 4 von 7)

Fleiß, Mut und Durchsetzungsvermögen von Simone

Donnerstag, 2. Block, Psychologieunterricht. In den vergangenen 90 Minuten habe ich ihren Namen mehrmals gehört. Gut formulierte Antworten, auf den Punkt gebrachte Fragen – Simone kenne ich als eine fleißige und hilfsbereite Kollegiatin. Hinter dem freundlichen Auftreten verbirgt sich nicht nur eine dreifache Mutter, sondern eine echt mitreißende Lebensgeschichte.

Diese Geschichte mit Höhen und Tiefen und einem bewundernswerten Durchsetzungsvermögen… fängt mit dem Abgang von einer Schule an und hat einen spezifischen Grund:

„Ich bin sehr früh Mutter geworden.“

SIMONE, Kollegiatin am Berlin kolleg im Frühjahr 2023

Mit diesem Satz fängt zugleich der Teil von Simones Geschichte an, der sie letztendlich ans Berlin-Kolleg führen wird. Für sie und ihre kleine Familie ist die Familiensituation selbst zwar erfüllend, im Zusammenhang mit Schule und Lernen stellt das Mutterdasein für Simone allerdings ein Problem dar, das sie zunächst nicht bewältigen kann. Dieses Problem ist gesellschaftlich betrachtet übrigens keine Seltenheit: Familienarbeit wurde historisch gesehen im Bildungs- und Ausbildungsprozess oft nicht genügend berücksichtigt. Das nicht sehr verbreitete Bildungsangebot „Abendgymnasium am Vormittag“ war deshalb explizit darauf ausgerichtet, Personen anzusprechen, die im Schichtdienst arbeiten oder Kinder betreuen, die während des Vormittags in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sind. Die Auswahl an Bildungsmöglichkeiten, die Eltern wie Simone bleibt, ist also normalerweise eher gering oder gar nicht vorhanden.

Trotz ihrer persönlichen Umstände zeigt Simone stets Mut und Durchsetzungsvermögen, indem sie versucht, ihre Chance auf Bildung und Ausbildung trotz allem zu nutzen. Nach der Elternzeit holt sie ihren Hauptschulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg nach und zählt somit zu den 15,5% der Kollegiat:innen deutschlandweit, die ihren Schulabschluss auf diese Weise erworben haben.* Für Menschen, die den regulären Bildungsweg ganz ohne Abschluss beenden, gestaltet sich der Einstieg in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt häufig als äußerst schwierig. In diesen Fällen ist der zweite Bildungsweg oft die einzige Möglichkeit, um doch einen Weg in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt zu finden.

Mit dem Erwerb des Mittleren Schulabschlusses beginnt Simone dann ihren Traum, Krankenschwester zu werden, zu verfolgen, nebenbei arbeitet sie in einer Demenz-WG. Das Ziel scheint in greifbare Nähe zu rücken: sie bekommt einen Ausbildungsplatz als Gesundheits- und Kinder-Krankenpflegerin. Doch so einfach wird es für die Träumerin nicht, die Ausbildung wird immer wieder durch eigene Erkrankungen oder Erkrankungen von Familienmitgliedern unterbrochen. Simone bricht letztendlich ab, kümmert sich um ihre Gesundheit und pflegt ihre Großmutter. Auf diese Weise vergehen mehrere Jahre. Trotz langjähriger Arbeit im medizinischen Bereich hat sie am Ende aber keinen Abschluss vorzuweisen.

Was nun?
Mit Anfang dreißig versucht Simone ihr Glück also erneut, sie kommt jetzt aufs Berlin-Kolleg. Ihr Alter bereitet ihr zwar Sorgen, von denen sie sich aber nicht beirren lässt. Nach dem Abitur möchte sie einen Beruf ausüben, der ihr Freude bereitet, auf dem Weg dahin strebt sie außerdem ein Biologiestudium an. Arbeit neben der Schule und Mutterschaft begleiten die fleißige Kollegiatin dabei auf ihrem Weg. Simone sticht mit ihrem spezifischen Lebensentwurf definitiv aus der Masse der Kollegiat:innen heraus. Eine Umfrage unter 88 Personen am BK im Frühjahr 2023 ergab, dass nur 10,7% bereits über 31 Jahre alt sind, insofern liegen die von uns in diesem Feature porträtierten Personen deutlich über dem Durchschnittsalter typischer Kollegiat*innen.

Überdies haben nur 7,1% der Kollegiat*innen am Kolleg Kinder wie Simone. Trotz dieser „statistischen Seltenheit“ und dem zusätzlichen Zeitaufwand, der sich durch die Betreuung eigener Kinder ergibt, ist Simone jedoch aktiv im schulischen Leben involviert und nimmt gerne an Sitzungen teil, die das Konzept der Anlaufstelle für Diskriminierung betreffen.

„Das ist mein Fazit: sich immer neu zu orientieren und nicht aufzugeben; ich
will für mich persönlich beruflich Erfolg haben. Ich habe mich schon oft in
meinem Leben hinten angestellt.“

SIMONE, Kollegiatin am Berlin kolleg im Frühjahr 2023

Am Berlin-Kolleg schätzt Simone das Lernen auf Augenhöhe. Wie Simone betonen viele Kollegiat:innen den Unterschied zwischen dem Schüler-Lehrer-Verhältnis im ersten und im zweiten Bildungsweg. Die Lehrkräfte haben mehr Verständnis, sehen die Schüler als Persönlichkeiten. Wie viele anderen Kollegiat:innen traut sich Simone hier auch mehr zu; den ersten Bildungsweg sieht sie für sich als falschen Bildungsrahmen. Das Miteinander findet Simone deutlich wertschätzender und bereichernder als im früheren Schulleben: „Hier kann jeder sein, wie er will.“ Ihre überdurchschnittlichen schulischen Leistungen führt sie selbst nicht nur auf persönlichen Fleiß zurück. Das Interesse an den gewählten Fächern sei ein wichtiger Baustein auf ihrem Weg zum Erfolg, ist sie überzeugt. Motiviert und motivierend bewältigt Simone so den schulischen Alltag.

Mit sicheren Schritten geht die Kollegiatin ihrem Ziel, das Abitur zu machen, entgegen. Ihre Lebensgeschichte zeigt, dass nichts unmöglich ist, wenn man sich nicht entmutigen lässt. Per aspera ad astra – Über raue Pfade gelangt man zu den Sternen.


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